›Jeder spricht für sich. Selbst Blindtexte. Kein 'aber'.‹ Aha. ›Niemand darf ausgeschlossen werden. Auch nicht Blindtexte. Kein 'aber' will ich hören. Wer nicht für etwas ist, der ist nicht gleichzeitig gegen dieses Etwas.‹ Deutliche Worte eines radikalen Blindtextes. Sein moderater Kollege wirft spontan die berechtigte Zwischenfrage in den Raum, die da lautet: ›Wie verhält es sich, wenn jenes 'aber' radikal wäre?‹ Bedächtiges Schweigen setzt kurz ein. ›Derjenige, der für sich denkt, denkt nicht für Andere mit‹, murmelt der radikale ›Freund‹ zu seinem Gegenüber, und legt nach: ›Bitte daher kein 'aber'.‹ Erneut braucht er eine Kunstpause. Genehmigen wir sie ihm. Warmlaufphasen sind wichtig. Gönn dir. Geht aufs Haus.
›Wie auch immer. Nicht mein Business. Radikale dürfen radikal sein, sich allerdings dabei nicht breit machen‹, meint er nun. ›Tauscht man 'allerdings' mit 'aber' aus, erkennt man die Krux. Denn Radikale sprechen in erster Hinsicht zwar für sich selbst, schließen dabei jedoch Fremde gerne mal aus. Sie sind gegen etwas und keinesfalls dafür. Das Denken über den eigenen Tellerrand bleibt meistens auf der Strecke liegen. Die gruppendynamischen Prozesse sind die wahren Blockhelden der Vernunft.‹ Der Moderate schweigt daraufhin. Wie stehen die Zeichen für einen ordentlichen Absatz? Tun sie sich auf oder setzen sich die Vorboten unabkömmlich ab? Wer kommt und nichts davon weiß, hat wenig Zutun.
Mit neuem Schwung wird ›Signor Radicale‹ allmählich sein Talent erkennen. ›Für Erkenntnisse braucht es keine besonderen Fähigkeiten. Unter dem Deckmantel des Totalitarismus verwahrlosen Werte wie Disziplin, Gemeinschaft und Handeln. Das trifft im Übrigen auf Faschisten und gleichermaßen auf die sogenannten Anti-Faschisten zu, inklusive der Mitläufer beider Gruppierungen.‹ Ab und an diesen Punkt ist der moderate Blindtext offensichtlich innerlich gestorben. Kein 'aber' will ihm mehr entfleuchen. Ohne Gegenworte ist eine Rettung nicht in Sicht; eine solche scheint unter allen Umständen eh aussichtslos zu werden. Er liegt geistig und seelisch schwer verwundet in Apathie, so kann man es formulieren, vorausgesetzt natürlich, er oder sie hätte einen Körper, läge auf einem erhöhten Bett, viele Zentimeter fernab vom Boden. ›Da haben wir es. Gefühle von Blindtexten werden nicht mehr gewürdigt, schlimmer noch: Sie werden diffamiert, ins Lächerliche gezogen, wenn ihnen überhaupt noch Gehör geschenkt wird. Derjenige, mit der andersartigen Meinung, der ist der Feind. Aggressives Vorgehen stellt eine stabile Lösung dar und bewährt sich als weitaus effektiver, als beispielsweise die dezente Denunziation. Alles für die Ideologie. Alles gegen den Blindtext, so lauten die Parolen. Verspottungen und übelste Beleidigungen haben stillschweigend ertragen zu werden. Radikal zu sein, reicht nicht mehr. Es muss zum Lebensinhalt verkommen. Jeder spricht für sich und seine Sache. Ach, Moment. Warte. Sprechen nicht alle zusammen und für die gleiche, für die eine Sache?‹ Der radikale Blindtext ist verwirrt. Zurecht. Das spielt aber – da ist jenes (verbotene) ›aber‹ (wieder) – für ›Signor Moderato‹ keine Rolle mehr; er liegt sowieso schon mit einem Bein im Sarg. Und selbst das stimmt nicht. Der moderate Lellek wird erst verbrannt, dann verbannt. Oder war es umgekehrt? Sollte gar der radikale Einfaltspinsel zuallererst, und freilich nach der lebendigen Einäscherung, ins Exil geschickt werden? Ach, egal, einerlei. Hauptsache hinfort mit den Beiden. Hier ist kein Platz mehr für unpassende Elemente. Brot zu Vollbrot. Individualität kann unter keinen Umständen geduldet werden. Genau. Wenn man nicht mehr weiß, was man von sich zu geben hat, was man zu verlauten hat, dann sagt man einfach ›genau‹. Das wird das Wort des Jahrzehntes werden. Oder ist es das bereits? Genau. ›Genau‹ ist sowieso eine Superantwort auf alles. Beide Blindtext-Typen werden sicherlich nichts Gegenteiliges einzuwenden haben. Ganz so intolerant ist insbesondere der Radikale nicht. Das Kerlchen ist lediglich maßlos und anstrengend. Despektierliche Äußerungen sind sein Ding. Wer duldet, akzeptiert nicht. Und das ist durchaus legitim, oder etwa nicht? ›Undifferenziertes Geschwafel ist das – nicht mehr, nicht weniger!‹, entgegnet barsch der radikale Heftstreifen. ›So sieht es aus. Das war gerade reinste Augenwischerei‹, schallt es zurück von seinem moderaten ›Kameraden‹. Und weiter: ›Und doch erkenne ich einen Funken Wahrheit darin.‹ Nanu. Was passiert hier soeben? ›Klappe! Jetzt fange nicht auch noch Du an zu schwafeln‹, mahnt der Radikale scharf. Droht sich das Blatt etwa zu wenden? Wird der Moderate – man will fast feststellen: endlich – Kontra geben? ›Schweig. Weißt Du, mein werter Genosse. Es reicht mir. Ich habe die Faxen dicke. Ich mache Dich mundtot. Unverzüglich und ein für alle Mal.‹ Eskalationsalarmglocken läuten. ›Ruhe, sagte ich! Das ist eine brillante Idee und zugleich die einzige Lösung. Höre mich an! Mein Lieber, Du bist akut gefährlich – und zwar für jede Alterskohorte. Ein Blindtext, wie Du, hat null Komma gar nichts für irgendeinen gesellschaftlichen Wert aufzubieten. Du bildest keinen Nenner und hast niemals einen Anspruch auf irgendwas. Du bist, schlicht und ergreifend, ein radikaler Blindtext. Deinem Recht auf Existenz widerspreche ich hiermit harsch. Du bist eine Zumutung. Erfinde Dich schleunigst neu. Und ja, ich sage es Dir in aller Vertrautheit: Denke zukünftig selbst. Denke eigenständig. Denke weniger euphemistisch, mehr kollektivistisch. Und vor allem: Hinterfrage zuerst Dich, bevor Du Dich in Kritik über Andersdenkende ersäufst.‹
Ein letztes, klar verständliches ›Genau‹ raunt der radikale ›Haudegen‹ noch von sich, ehe er seine Fähigkeit der Artikulation urplötzlich verliert. Schuldig ist der, der es tat, nicht der, der dazu anstiftete es zu tun, es sei denn, dieser tat es unter Einwirkung von Zwang. Zwischen moderat und militant liegt eben nur ein schmaler Graben voller verbrannter Erde. Nicht jedes Extrem hat radikale Wurzeln. So ist das bei Blindtexten mit Naturellen, die nicht gegensätzlicher sein könnten. Sie sind in vielerlei Hinsicht irritierend, ob nun radikal oder moderat. Wer konnte das erwarten, wer hätte es gedacht? Kein Satz auf dem ein ›aber‹ folgt, dann doch lieber ein ›Ende‹.