18:29 Uhr. Ich öffne das Fenster. Ich habe Durst. Auf dem Fensterbrett steht eine kürzlich angebrochene Flasche mit Apfel-Kirschsaft. Ich greife nach ihr, drehe den Verschluss auf und schütte einen Teil des Inhalts in ein kleineres Gefäß aus Plastik, in dem mal ursprünglich ein Smoothie [oder so] drin war. Das kleine Teil begleitet mich schon mindestens seit dem 6. Februar 2019, eher früher. Ich mache das am Haltbarkeitsdatum fest, das immer noch auf dem abschraubbaren Deckel klebt, obwohl ich das Behältnis bereits viele Male gewaschen habe. Heute trank ich aus ihr Orangensaft. Ein wenig ist noch drin. Zusammen mit dem Getränk aus Apfel und Kirsch ergibt sich eine sonderbare Farbe. Im Kühlregal eines Supermarkts würde das Ding wohl zum Ladenhüter. Dinge, die nicht schön ausschauen, konsumiert man ungern, gleiches gilt für das Essen.
Es ist dreißig auf Sieben. Ich habe die Uhrzeit geprüft. Dreimal. Die Uhr an der Wand, die Anzeige auf dem Mobiltelefon und die des Laptops – alle sagen mir, dass es 18:30 Uhr ist. Ich zünde mir eine Zigarette an, was ein Fehler war. Meine Duftkerze ist soeben abgebrannt. Trotzdem schließe ich das Fenster wieder. Ich hole mir ein Klappmesser, entferne die Wachsüberreste vom Kerzenständer, greife nach einem neuen Beleuchtungsmittel mit (Cherry-)Geruch, entferne die Folie, stecke sie auf die Halterung und zünde den Docht mit einem Feuerzeug in roter Farbe an. Während ich das alles tue, schaue ich immer wieder mal aus dem Fenster. Eine Frau läuft mit einem kleinen schwarzweißen Hund Richtung Wald. Sie gibt dem Hund nicht viel Zeit fürs Zeitungslesen und das Absetzen von Urin, zieht ihn mehr oder weniger hinter sich her, nicht bösartig, aber doch irgendwie. Der Hund ist unauffälliger als die Frau, die ich nicht näher beschreiben werde. Sie will Strecke machen und verschwindet gerade aus meinem Blickfeld. Aus einer Ausfahrt auf etwa gleicher Höhe wird die Restmülltonne an den Straßenrand geschoben und dort platziert. Die Person kenne ich überaus gut. Es ist mein alter Trainer aus Jugendzeiten, fit wie eh und je, nur ein wenig älter. Auf der gegenüberliegenden Seite steht eine der vielen Winterlinden, die die Straße zum Wald [nach der Kreuzung] auf beiden Bürgersteigen begleiten, sie sozusagen säumen. Jene eine Linde unterscheidet sich prinzipiell nicht von den anderen und doch zieht sie meine kurze Aufmerksamkeit an sich. In ihrem Astgeflecht befindet sich ein Vogelnest. Ich denke, es ist verlassen. Ich überlege, zu meiner Kamera zu greifen, um meine Mutmaßung zu überprüfen. Schnell wird mir allerdings klar, dass ich kein Ornithologe bin. Ich verwerfe den Plan und sehe mir den Amselmann auf den Apfelbaum im Garten an. Er schaut genauso bescheuert ins Nichts wie ich, spekuliere ich. Es treiben sich noch mehr von seiner Gattung hier herum, ausnahmslos Männchen. Alle warten sie auf die Wiederkunft ihrer Weibchen, oder überhaupt von Weibchen. Ich habe noch keine einzige Amselfrau gesehen. Wahrscheinlich sind die meisten von ihnen gen Süden gezogen. Dieser Amselmann hat indes den gelb-orangenen Schnabel vorn, er ist der Boss, vermute ich. Käme also mal eine Amseldame des Weges, würde er ihre Gunst gewinnen, da bin ich mir sicher. Gegenwärtig hat er sich den benachbarten Busch für sein Jagdrevier ausgesucht und wurde fündig. Wahrscheinlich irgendein Insekt oder vielleicht auch eine Larve. Der Fang hat die anderen in Aufruhr gebracht, aber die machen nur Show und queren geräuschvoll das kleine Gartenstück. Ihn bringt das nicht aus der Fassung. Er schlingt seine Beute mit einer Seelenruhe herunter. Ich habe ihm noch keinen Namen gegeben, obwohl ich ihn fast jeden Tag sehe – selten bewusst, oft gedankenlos. Er gehört einfach dazu.
Es ist 18:39 und ich hoffe, die letzte Minute verstreicht schneller als die vorherigen. Ich prüfe wieder die Uhrzeit an den bereits eingangs erwähnten Apparaturen. Alle scheinen im Einklang zu ticken. In dem Moment fällt mir ein, dass ich noch ein altes Outdoor-Handy der Marke Samsung [B2100] am Start habe, welches mir nur noch als Wecker dient. Ich schaue auf dessen Display und mir wird 18:44 angegeben. In der festen Überzeugung, dass die anderen Uhren einfach der Zeit hinterherlaufen, glaube ich dem Altgerät und seiner Anzeige. Warum auch nicht? Das Hintergrundbild zeigt meine alte Hündin [Adelhaid] als Welpe. Sie war ein ehrliches Tier und bis zu ihrem Lebensende am 14. Dezember 2020 [mir] treu ergeben.